In der Welt der Architektur, wo Beton, Stahl und Glas dominieren, hat ein japanischer Architekt beschlossen, die Branche mit... Karton zu revolutionieren. Shigeru Ban, Träger des Pritzker-Preises von 2014, hat bewiesen, dass ein Material, das hauptsächlich mit Verpackungen assoziiert wird, zur Grundlage für dauerhafte, sichere und schöne Gebäude werden kann. Seine Geschichte ist eine faszinierende Reise von Experimenten mit Papierrohren bis zur Rettung von Menschen in Katastrophengebieten auf der ganzen Welt.
Shigeru Ban wurde 1957 in Tokio geboren, begann aber seine architektonische Ausbildung am Southern California Institute of Architecture in Los Angeles. Dort experimentierte er in den 80er Jahren zum ersten Mal mit ungewöhnlichen Baumaterialien. Seine Faszination für Karton entstand aus dem Wunsch, ein Material zu finden, das gleichzeitig billig, ökologisch und einfach zu bearbeiten wäre.
Der erste Wendepunkt in Bans Laufbahn war die Entdeckung, dass Papierrohre - dieselben, die in der Textilindustrie verwendet werden - außerordentlich robust sein können. Wenn sie richtig entworfen und verstärkt sind, können sie erhebliche Lasten tragen. Diese Beobachtung wurde zum Fundament seiner architektonischen Philosophie.
1986 schuf Ban sein erstes Projekt mit Papierrohren - eine Kunstinstallation in einer Galerie. Der Erfolg dieses Experiments führte ihn zur Entwicklung eines Konstruktionssystems, das er "Paper Log House" (Haus aus Papierstämmen) nannte. Diese zylindrischen Elemente, hergestellt aus Papierschichten, die mit biologisch abbaubarem Kleber verklebt wurden, erwiesen sich als ebenso widerstandsfähig wie Holz, waren aber deutlich leichter und billiger in der Herstellung.
Die von Ban verwendeten Papierrohre haben normalerweise einen Durchmesser von 10 bis 33 Zentimetern und können in Längen bis zu 4 Metern produziert werden. Jedes Rohr kann eine Punktlast von bis zu 500 Kilogramm tragen, was bedeutet, dass eine Konstruktion aus solchen Elementen problemlos das Gewicht eines traditionellen Daches tragen kann.
Eines von Bans spektakulärsten Projekten ist die Cardboard Cathedral (Kartonkathedrale) in Christchurch, Neuseeland. Nach der Zerstörung der gotischen ChristChurch-Kathedrale im Erdbeben von 2011 entwarf Ban eine temporäre Kirche, die etwa 10 Jahre dienen sollte, sich aber als so dauerhaft und beliebt erwies, dass sie zu einem permanenten Element der Stadt wurde.
Die Kathedrale ist 24 Meter hoch und kann 700 Personen fassen. Ihre Hauptkonstruktion besteht aus 98 Papierrohren mit einem Durchmesser von 60 Zentimetern. Jedes Rohr ist mit Stahlträgern verstärkt, und die gesamte Struktur ist mit Polycarbonat und Holz verkleidet. Bemerkenswert ist, dass das Gebäude vollständig erdbebensicher ist - es kann Erdbeben mit einer Stärke von bis zu 7 auf der Richterskala standhalten.
Die Baukosten betrugen nur 5,9 Millionen Neuseeland-Dollar, was einen Bruchteil der Kosten einer traditionellen Kathedrale darstellt. Das Projekt wurde in der Rekordzeit von 2 Jahren fertiggestellt, während der Wiederaufbau der ursprünglichen Kathedrale noch andauert.
Ban ist vor allem für seine "Papier-Notfallarchitektur" bekannt. Nach jeder größeren Naturkatastrophe - dem Erdbeben in Kobe (1995), dem Tsunami in Japan (2011), dem Erdbeben in der Türkei (1999) oder in Haiti (2010) - erscheint der Architekt vor Ort mit einem Team von Freiwilligen und Materialien zum Bau temporärer Unterkünfte.
Seine "Paper Log Houses" können in 6 Stunden von 6 Personen ohne Spezialwerkzeuge zusammengebaut werden. Ein Haus kostet etwa 2000 Dollar an Materialien und kann einer Familie 2-3 Jahre dienen. Die Konstruktion ist wasserdicht, thermisch isoliert und kann leicht demontiert und an einen anderen Ort verlegt werden.
Ban entwickelte auch das "Paper Partition System" - bewegliche Kartonwände, die Privatsphäre in großen Hallen bieten, wo Flüchtlinge untergebracht werden. Diese einfachen Konstruktionen aus Papierrohren und Stoff geben Menschen ein Gefühl von Würde und Privatsphäre in den schwierigsten Momenten ihres Lebens.
Eine der wichtigsten Herausforderungen in der Kartonarchitektur ist der Schutz der Konstruktion vor Feuchtigkeit und Feuer. Ban löste diese Probleme durch:
Feuchtigkeitsschutz-Imprägnierung: Papierrohre werden mit speziellen Polymeren getränkt, die eine unsichtbare Barriere gegen Wasser bilden, ohne die mechanischen Eigenschaften des Materials zu verändern.
Brandschutz: Karton wird mit Flammschutzmitteln auf Boratbasis behandelt, die für Menschen ungiftig, aber wirksam bei der Verlangsamung der Feuerausbreitung sind.
Fundamente aus Bierkisten: In vielen Notfallprojekten verwendet Ban Plastik-Bierkisten, die mit Sand oder Kies gefüllt sind, als Fundamente. Diese Lösung ist billig, global verfügbar und überraschend effektiv.
Ban beschränkt sich nicht nur auf humanitäre Architektur. Seine kommerziellen und kulturellen Projekte überraschen ebenfalls durch Kreativität und Eleganz:
Der Japan-Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover war die größte Papierkonstruktion der Geschichte. Vollständig aus Karton und Papier gefertigt, maß er 74 x 35 Meter und war nach Ende der Ausstellung vollständig recycelbar.
Das Centre Pompidou-Metz in Frankreich, obwohl nicht aus Karton gebaut, nutzt strukturelle Konzepte, die Ban in seinen Papierprojekten entwickelt hat. Die wellenförmige Dachkonstruktion nimmt Bezug auf die Flexibilität und organischen Formen, die mit Papier möglich sind.
Das Tamedia Office Building in Zürich ist das erste Bürogebäude in Europa, das vollständig ohne Schrauben, Nägel oder Kleber errichtet wurde - nur aus präzise angepassten Holzelementen, was durch Erfahrungen mit dem Entwurf von Papierkonstruktionen möglich war.
Für Ban ist Kartonarchitektur nicht nur ein Materialexperiment, sondern eine tiefe Philosophie der nachhaltigen Entwicklung. Karton ist zu 100% biologisch abbaubar, seine Produktion verbraucht 90% weniger Energie als die Betonproduktion, und die CO2-Emission ist praktisch null.
Der Architekt betont oft, dass seine Projekte "temporary architecture for permanent needs" sind - temporäre Architektur für permanente Bedürfnisse. Dieser scheinbare Widerspruch zeigt, dass manchmal temporäre Lösungen sinnvoller sein können als der Bau von Konstruktionen für die Ewigkeit, die den sich ändernden Bedürfnissen möglicherweise nicht gerecht werden.
Bans Arbeiten haben die Art verändert, wie Architekten über Baumaterialien denken. Sein Ansatz führte zur Entwicklung einer ganzen Richtung der "Emergency Architecture" - Notfallarchitektur, die heute an den besten Architekturhochschulen der Welt gelehrt wird.
Architekturstudenten auf der ganzen Welt experimentieren mit Karton, und viele Architekturbüros haben begonnen, nachhaltige, ungewöhnliche Materialien in ihre Projekte einzubeziehen. Ban hat bewiesen, dass ein Architekt nicht nur Künstler, sondern auch Humanist und Ökologe sein kann.
Derzeit arbeitet Ban an neuen Technologien, die die Möglichkeiten der Kartonarchitektur noch weiter erweitern können. Er experimentiert mit Karton, der mit Bambusfasern verstärkt ist, was noch widerstandsfähiger und vollständig biologisch abbaubar ist.
Er entwickelt auch Systeme für vorgefertigte Kartonelemente, die in Masse produziert und leicht zu Katastrophenorten transportiert werden können. Seine Vision ist eine Welt, in der humanitäre Hilfe in Form von "Architektur in der Box" geliefert werden kann - komplette Bausätze für Unterkünfte, die wie IKEA-Möbel aufgebaut werden können.
2014 erhielt Shigeru Ban den Pritzker-Preis - die wichtigste Auszeichnung in der Architekturwelt, oft als architektonischer Nobelpreis bezeichnet. Die Jury hob seine "Innovation, seinen Mut und sein Engagement für humanitäre Hilfe" hervor. Ban ist der erste Architekt in der Geschichte, der diese Auszeichnung hauptsächlich für Projekte aus temporären Materialien erhalten hat.
Er erhielt auch die Royal Gold Medal vom Royal Institute of British Architects im Jahr 2021, und seine Arbeiten befinden sich in den Sammlungen der wichtigsten Architekturmuseen der Welt.
Shigeru Ban hat bewiesen, dass Architektur gleichzeitig schön, funktional, ökologisch und preiswert sein kann. Seine Kartonkonstruktionen sind nicht nur architektonische Experimente - sie sind ein Symbol der Hoffnung für Millionen von Menschen, die ihre Häuser bei Naturkatastrophen verloren haben.
Heute, da die Welt vor Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Wohnungskrise steht, wird Bans Vision noch aktueller. Seine Arbeit zeigt, dass die Zukunft der Architektur nicht in immer teureren und fortschrittlicheren Technologien liegen muss, sondern in der Rückkehr zur Einfachheit, Nachhaltigkeit und menschlichen Solidarität.
Karton, der einst nur mit Pizzakartons assoziiert wurde, ist dank Shigeru Ban zu einem Symbol der Hoffnung und zum Beweis dafür geworden, dass die größten Revolutionen oft bei den kleinsten Dingen beginnen.
Foto: Bujdosó Attila, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons